2003,  Repression

Polizeiprozess fährlässige Tötung

Inhalt:
1. Medienbericht
2. Freispruch


1. Medienbericht (Originalquelle: http://ch.indymedia.org/de/2003/01/3776.shtml)
-Berner Zeitung 29.1.03
Polizisten im Mai vor Gericht Vier Stadtpolizisten müssen sich vom 26. bis zum 28. Mai wegen fahrlässiger Tötung vor dem Richter verantworten.
Strafeinzelrichter Peter Zihlmann wird zu prüfen haben, ob die Polizisten bei der Festnahme des türkischen Staatsangehörigen Cemal G. am 3. Juli 2001 an der Looslistrasse in Bern-Bethlehem verhältnismässig gehandelt haben und ob sie sich in einer Notwehrsituation befunden haben. Der 42-jährige Cemal G. hatte bei der Festnahme Verletzungen erlitten und war vier Tage nach dem Polizeieinsatz gestorben. Der Festnahme war eine mehr als vier Stunden dauernde Intervention der Stadtpolizei Bern vorausgegangen. Zum Polizeieinsatz war es gekommen, nachdem Anwohner die Polizei wegen eines Familienstreits in der Wohnung der türkischen Familie alarmiert hatten. Grund des Streits: Cemal G. hatte seinem ältesten Kind die Teilnahme an einem Schulabschlussfest verboten und seine Frau und Kinder mit einem Messer bedroht. Die Polizei setzte eine Schockgranate ein und überwältigte Cemal G. mit dem Mehrzweckstock. Dabei verletzte Cemal G. einen Polizisten mit einem Messer im Schulterbereich. Ein Arzt spritzte Cemal G. darauf Beruhigungsmittel, worauf es zum Kreislaufstillstand kam. Bis zu seinem Tod erlangte Cemal G. das Bewusstsein nicht wieder. Den vier Polizisten droht bei Schuldsprüchen eine Maximalstrafe von einem Jahr Gefängnis. sgt

-Wochenzeitung 7.12.01
Bern: der Tod eines Familienvaters nach einem Polizeieinsatz
Wie Berner Polizisten einen dramatischen Fall von häuslicher Gewalt final gelöst haben.
Augenzeugenberichte, Amateurvideos und eine erste Stellungnahme der Behörden.
Grosser Aufmarsch im Assisensaal des Berner Amthauses am Mittwochvormittag. Der Staatsanwalt, der Untersuchungsrichter, der Gerichtsmediziner und die Kantonspolizei informieren die Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Tod des 42-jährigen Kurden Cemal G., der letzte Woche nach einem Polizeieinsatz im Spital gestorben war.

Der Gerichtsmediziner Ulrich Zollinger räumt ein, dass der Tod vermutlich eine Folge des Polizeieinsatzes gewesen sei. Er schliesst jedoch aus, dass die Schläge der Polizisten bei der Festnahme Cemal G.s Tod verursacht hätten. Man habe Cemal G. nach der Festnahme eine Beruhigungsspritze verabreicht, anschliessend sei ein Herzstillstand eingetreten, Cemal G. habe noch in der Wohnung reanimiert werden müssen. Er habe aber bleibende Gehirnschäden erlitten und sei bis zu seinem Tod im Inselspital am Samstagvormittag nicht mehr zu Bewusstsein gelangt.

Viele weitere Fragen, die im Verlauf der Medienorientierung gestellt wurden, mochten die Behörden nicht oder nur unzureichend beantworten. Es stellte sich heraus, dass abgesehen von G.s Psychiater keine Fachperson vor Ort war. Keine Erklärung gab es auf die Frage, warum die Polizei mit allen Mitteln der Aufstandsbekämpfung – Tränengas, Gummischrot und Blendgranaten – einen verzweifelten Mann auf einem Balkon in einen Berner Aussenquartier niederkämpfte und ob dies verhältnismässig gewesen sei.

Häusliche Gewalt
Am Dienstag letzter Woche an der Looslistrasse in Bern-Untermatt: Kurz nach 19 Uhr traf eine per Notruf avisierte Streife der Stadtpolizei ein. Die Polizisten sahen sich einem türkisch-kurdischen Familienvater gegenüber, der gemäss Polizeicommuniqué seine Frau und die drei Kinder mit zwei Hämmern bedrohte. Die Beamten brachen die Türe auf und konnten die Familie in Sicherheit bringen. Es gelang der Polizei aber erst nach mehreren Stunden und mehreren Versuchen, den Mann zu überwältigen. Vier Tage später, am Samstag, starb er im Inselspital.

Am Tag nach der Festnahme erhielt der lokale Fernsehsender «Tele Bärn» zwei Amateurvideos, welche die Polizeiaktion über weite Teile dokumentieren. Auf dem ersten Band – noch bei Tageslicht gefilmt – ist zu sehen, wie Cemal G. in einer Ecke seines Balkons steht und mit der einen Hand ein Kissen hält. In der anderen ist ein Küchermesser zu erkennen. Mit diesem versucht er auf einen Polizisten einzustechen, der ihn, von einem grossen Bastschild geschützt, zu fassen versucht. Der Polizist trägt eine kugelsichere Weste und kann dem am Schild vorbei geführten Messerstich ausweichen. Um gleich darauf Cemal G. von neuem zu bedrängen.

Das zweite Video zeigt die Festnahme, die gemäss Polizeicommunique gegen 23 Uhr 20 erfolgte. Man sieht dabei, wie mehrere Angehörige der Sondereinheit «Stern» mit Gasmasken geschützt auf den Balkon vordringen und den Mann, der sich mit einem Gertel zur Wehr setzt, niederstossen. Einer der Polizisten schlägt dabei mit seinem Stock mehrfach auf den Kopf des sich heftig wehrenden Cemal G. ein. Später sieht man dann, wie der überwältigte Mann zusammensackt.

Psychisch angeschlagen
Die Aussagekraft der Bilder wurde von den Polizeisprechern von Stadt- und Kantonspolizei umgehend in Zweifel gezogen. Doch die Aufnahmen sprechen für sich. Sie zeigen einen Einsatz, dessen Sinn immer fragwürdiger erscheint, je mehr man sich mit Cemal G. und den Umständen seiner Festnahme beschäftigt.

Cemal G. war ein 42-jähriger Türke kurdischer Herkunft aus der Stadt Konja. Seit knapp zehn Jahren lebte er in der Schweiz, wo er Asyl erhalten hatte. Mit seiner Frau und seinen drei Kinder wohnte er seit einiger Zeit in der Untermatt. Schon in der Türkei, erzählt einer seiner Bekannten, galt er als labil. Sein Zustand habe sich aber drastisch verschlechtert, nachdem er dort von der Polizei festgenommen und danach heftig geschlagen worden sei. Deshalb sei er in der Schweiz auch schon seit längerer Zeit in psychiatrischer Behandlung gewesen. Auch wurde mindestens einmal ein fürsorgerischer Freiheitsentzug über ihn verhängt.. Er war arbeitsunfähig und hatte im Gegensatz zu seiner Familie keine Niederlassungsbewilligung C, sondern nur eine Aufenthaltsbewilligung B. Cemal G. galt als leicht reizbar und gewalttätig – auch seiner Familie gegenüber. Das haben verschiedentlich Landsleute erfahren müssen. Aber auch der Polizei soll er deswegen schon aufgefallen sein. Auf Uniformen reagierte er besonders ungehalten, selbst wenn ihre Träger ihm gar nicht zu nahe kommen wollten, weiss ein Bekannter. Wer ihn hingegen ernst nahm und sich mit ihm auf ein längeres Gespräch einliess, auf den konnte Cemal G. vernünftig reagieren.

Einiges davon muss der Polizei spätestens im Laufe des Einsatzes bekannt gewesen sein. Denn schliesslich befand sich mindestens zeitweise auch sein Arzt und Therapeut vor Ort. Dieser bestätigt den Sachverhalt, wollte sich aber gegenüber der WoZ nicht weiter zu den Vorgängen äussern.

Massenauflauf und Applaus
Das Bild, das die von der WoZ befragten Augenzeugen der Polizeiaktion entwerfen, ist nicht einheitlich. Da sind zum Beispiel die beiden Nachbarinnen M. und A., die sich auf dem Gartensitzplatz von M. aufhielten. Diese erzählt: «Plötzlich kam eine Frau angerannt und bat uns, die Polizei anzurufen. Im Nachbarhaus bedrohe ein türkischer Mann seine Frau und die Kinder. Da ich noch nicht lange im Quartier wohne, stellte ich zwar die Polizeinummer ein, aber dann gab ich den Hörer der ortskundigen Nachbarin weiter.» Kurz darauf sei die Polizei erschienen: «Ich stellte fest, dass sie sich auch hinters Haus begaben und hörte einen Polizisten rufen ‚Messer weg‘. Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass ein Mann mit seinem Sohn auf dem Balkon stand und wie ein Wilder herumschrie.» Unter dem Balkon sei die Menge zusammengelaufen: «Viele machten sich Sorgen wegen des Buben, der sich in der Gewalt des Vaters befand.» Später sei es den im Schutze von Schildern vorgehenden Polizisten gelungen, die Familie aus der Wohnung zu bringen. Im Polizeicommuniqué findet sich allerdings kein Hinweis auf irgendeine Form von Geiselnahme. A. stellte fest, dass sich G. im Laufe des Abends wie ein Berserker gebärdet und mit dem Messer die Sonnenstore zerfetzt habe.

Unterdessen hatte die Feuerwehr alle Sträucher vor dem Balkon weggeschnitten und ein grosses Luftkissen aufgestellt. Ebenfalls anwesend war eine Ambulanz und ein Rega-Hubschrauber. Und natürlich wimmelte es von Polizei, darunter Antiterror-Spezialisten der Sondereinheit «Stern», die um 22 Uhr zur Verstärkung herbeigeeilt waren.
In diesem Zeitraum stellten M. und A. auch verschiedene kurdische Vermittlungsversuche fest. Die Kurden hätten aber der Polizei nicht sagen wollen, was sie mit ihrem Landsmann besprochen hatten, erklärt M. Hingegen hält A. fest, die Kurden seien von der Polizei weggewiesen worden.

Nach 23 Uhr habe sich dann eine nervöse Hektik verbreitet, sagt M. Sie habe dies nicht mehr ausgehalten und sei in ihre Wohnung zurückgekehrt: «Plötzlich hörte ich einen Riesenapplaus. Die Aktion war offenbar zu Ende.»
A. blieb bis zu diesem Ende: «Die Polizei verschoss einige Tränengaspetarden. Dann sah ich, wie drei oder vier Polizisten mit Gasmasken auf dem Balkon mit dem Mann rangen. Ich bekam wegen des Gases einen Hustenanfall.»
M. und A. äussern Verständnis für den Polizeieinsatz. A. sagt: «Die Polizei hat den Mann lange genug gewähren lassen. Von mir aus hätten sie ruhig früher einschreiten dürfen. Es war ein verdorbener Abend.»

Auch der Kurde K. wird diesen Abend nicht so schnell vergessen: «Als ich um 18 Uhr nach Hause kam, sah ich Cemal draussen mit seinen Kindern spielen. Später kam mein Sohn und sagte: ‚Komm, Vater, schau.’» K. erkannte Cemal auf dem Balkon: «Er hatte ein Kissen und ein Messer in der Hand. Seine Frau und seine Kinder waren zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in der Wohnung. Dann habe ich gesehen, wie die Polizisten ihn angegriffen haben. G. hat auf kurdisch gerufen: ‚Das ist mein Haus. Ich darf mich hier verteidigen. Geht raus.‘ Sein Sohn zeigt ein Gummigeschoss, das er nach dem Einsatz gefunden hat.

Beten für Kurdistan
K. erzählt dann, wie die Feuerwehr das Luftkissen montiert habe: «Wegen des Lärmes konnte ich nicht hören, ob aus dem Inneren der Wohnung mit G. gesprochen wurde. Auf dem Balkon rezitierte G. immer wieder eine Koran-Sure oder sprach die Bismillahala, die islamische Lobpreisung Allahs. Dazwischen schrie er ‚Kurdistan‘, ‚Azadi‘ [Freiheit] und ‚Öcalan‘.» Kurdische Kollegen hätten versucht, mit G. zu sprechen. Einer sei sogar in die Wohnung gegangen und habe hinter den Polizisten, die G. auf dem Balkon in Schach hielten, auf ihn eingeredet, ehe er weggeschickt worden sei.

Schliesslich kam das Ende. K. erzählt: «Eine Blendgranate explodierte. Dann sah ich, wie G. von mehreren Polizisten gepackt und zusammengeschlagen wurde. Schliesslich sackte er ohnmächtig zusammen. Als sie ihn dann heraustrugen, sah ich, dass er am Kopf blutete.» Man habe versucht, das Blut mit einem Tuch aufzufangen. «Sie haben ihn getötet», sagt K. bitter. «Das war nicht notwendig.» K. wohnt seit zehn Jahren in der Schweiz. Er sagt, er habe mit seinen schweizerischen Nachbarn ein gutes Einvernehmen und fühle sich hier sehr wohl. Er habe mit ihnen seit letztem Dienstag viele Gespräche geführt. Die meisten seien sehr traurig gewesen. Sein Sohn habe die letzten Nächte kaum schlafen können, wie viele andere Kinder, die die Polizeiaktion miterlebt haben.

Ein weiterer Augenzeuge ist Thomas Zimmermann. Er hat Teile der Polizeiaktion gefilmt und den Film an «Tele Bärn» weitergeleitet. Zum Zeitpunkt der Festnahme waren aber die Batterien seiner Videokamera erschöpft. Zimmermann erzählt, er habe an jenem Dienstag gehört, wie jemand draussen «Messer weg, Messer weg» geschrien habe. Er habe zum Fenster hinausgeschaut und den Mann auf dem Balkon vis-à-vis gesehen, der auf ihn wie ein in die Enge getriebenes Tier gewirkt habe. «Der Mann war zu diesem Zeitpunkt allein. Er kauerte in einer Ecke, eingeklemmt zwischen Eisschrank und Balkonbrüstung.» Der Mann sei im Quartier wegen seiner Gewaltanfälle bekannt gewesen. Man habe ihm auch schon kündigen wollen, habe dies aber mit Rücksicht auf die Familie bislang nicht getan. «Zuerst habe ich mich nur über diesen Mann aufgeregt, dann hat mir aber ein Nachbar gesagt, dass sich da drüben ein Familiendrama anbahne.» Zu diesem Zeitpunkt begann Zimmermann zu filmen. Die Polizei habe dies nicht gern gesehen, und als sie später mit einer grossen Taschenlampe die Szene auszuleuchten versucht hätten, sei ein Polizist hochgekommen und habe fast die Türe eingeschlagen.

Zimmermann sagt: «Der Mann war den ganzen Abend auf dem Balkon. Zeitweise hatte er sich beruhigt.» Die Polizei habe sich aber zu keinem Zeitpunkt zurückgezogen. «Schliesslich wurde er mit Blendgranaten und Tränengas angegriffen. Eine kurze Zeit wehrt er sich mit einem Gertel. Dieser fiel ihm dann aus der Hand und mehrere Polizisten prügelten auf ihn ein. Unten bildeten zu dieser Zeit mit Schildern ausgerüstete Polizisten einen Kordon um das Luftkissen. Damit er nicht einfach abhauen konnte.» Für Zimmermann geht dieser Polizeieinsatz eindeutig zu weit: «Bislang habe ich geglaubt, die Schweiz habe die Wahrung der Menschenrechte auf ihre Fahne geschrieben.»

Zimmermann wohnt seit vier Jahren im Quartier. Er sagt, seit letzten Dienstag sei die Stimmung «tuuch». Viele seien immer noch schockiert. Sonst sei draussen ständig lautes Kindergeschrei zu hören gewesen. Dass dieses fehle, hänge nicht mit den Schulferien zusammen, denn viele der hier Wohnenden könnten sich gar keine Ferienreisen leisten.

Die Stadträtin Catherine Weber (Grünes Bündnis) hält zum Vorfall klipp und klar fest: «Der Einsatz war unverhältnismässig und zeugt von fehlendem psychologischen Geschick für eine derartige Situation.» Vom Moment an, da Frau und Kinder in Sicherheit waren, hätte sich die Polizei zurücknehmen müssen. «Eine Strategie der Deeskalation hätte zwar mehr Zeit in Anspruch genommen. Sie wäre aber für alle Beteiligten der bessere Weg gewesen.»


2. Freispruch (Originalquelle: http://ch.indymedia.org/de/2003/05/9825.shtml)
Bern – Die vier Berner Stadtpolizisten, welche die fatale Verhaftungsaktion gegen Cemal G. befohlen und ausgeführt haben, sind unschuldig: Das Einzelstrafgericht Bern sprach sie vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung und versuchten schweren Körperverletzung frei.

Bern – Die vier Berner Stadtpolizisten, welche die fatale Verhaftungsaktion gegen Cemal G. befohlen und ausgeführt haben, sind unschuldig: Das Einzelstrafgericht Bern sprach sie vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung und versuchten schweren Körperverletzung frei.
Die vier Polizisten mussten sich seit Montag vor Gericht für einen Einsatz des Sonderkommandos Stern der Berner Stadtpolizei verantworten: Am 3. Juli 2001 versuchte die Einheit, den 42-jährigen Cemal G. in seiner Wohnung in Bern-Bethlehem zu verhaften. Dieser hatte zuvor seine Familie mit Hämmern und Messern bedroht.

Erst nach Stunden gelang es der Polizei, den gewalttätigen und psychotischen Mann zu fassen und zu Boden zu drücken. Dabei erlitt Cemal G. einen Herz-Kreislauf-Stillstand, der vier Tage später zum Tod des Mannes führte.
Die Staatsanwaltschaft warf Daniel Blumer, dem damaligen Chef der Sicherheitspolizei und heutigen Kommandanten der Stadtpolizei, sowie dem Einsatzleiter Stern vor, pflichtwidrig unvorsichtig die Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs der Anhaltungsmassnahmen ausser Acht gelassen zu haben. Damit hätten sie sich der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht.

Zwei subalterne Einsatzpolizisten der Stern-Einheit wurden beschuldigt, ihren Schlagstock weisungswidrig eingesetzt und wiederholt auf den Kopf von Cemal G. eingedroschen zu haben. Damit hätten sie sich der versuchten schweren Körperverletzung schuldig gemacht.

Quelle: sda