2014,  Gender,  Repression

Bundesgerichtsurteil DNA-Abnahme

Inhalt:
1. Medienmitteilung
2. Hintergrundbericht

1. Medienmitteilung (Originalquelle: http://ch.indymedia.org/de/2014/12/94016.shtml)
LEITENTSCHEID DES BUNDESGERICHTS: KEINE DNA-PROBEN „AUF VORRAT“
Medienmitteilung Demokratische Juristinnen und Juristen Bern (djb)
Bern, 23. Dezember 2014
Das Bundesgericht hat in einem (u.a. für den Kanton Bern) wegweisenden Urteil die Praxis der Polizei und (General-)Staatsanwaltschaft betreffend DNA-Entnahme und Profilerstellung deutlich kritisiert. Insbesondere bemängelt das Bundesgericht im beiliegenden Leitentscheid die routinemässige erkennungsdienstliche Erfassung sowie die DNA-Entnahme und Erstellung eines DNA-Profils, soweit dies nicht für die Aufklärung der Anlasstat zwingend notwendig ist und auch kein genügend erhärteter Verdacht besteht, dass sich die Person künftig eines Vergehens oder Verbrechens von einer gewissen Schwere schuldig machen wird. Damit erteilt es einer Datenerfassung – und speicherung auf Vorrat eine klare Absage. Erfreulich und für die Zukunft schweizweit wegweisend ist auch die Feststellung des Bundesgerichts, wonach die Weisung der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, gemäss welcher in sämtlichen Fällen, in welchen eine DNA-Probe entnommen worden ist, automatisch auch ein DNA-Profil zu erstellen ist, bundesrechtswidrig ist und der notwendigen Einzelfallabwägung nicht gerecht wird. Das Urteil ist aus rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Sicht zu begrüssen: Einer ausufernden polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Datenerfassung wird damit klar Einhalt geboten.
Wie sich auch anlässlich der Proteste rund um die Miss Schweiz Wahl 2014 gezeigt hat, ordnen Polizei und Staatsanwaltschaft im Kanton Bern erkennungsdienstliche Massnahmen und DNA-Entnahmen resp. Profilerstellungen auch ohne genauere Einzelfallprüfung und ohne den erforderlichen dringenden Tatverdacht an. Die djb fordern die zuständigen Behörden deshalb dazu auf, ihre Praxis umgehend anzupassen und die höchstrichterliche Begrenzung ernst zu nehmen.


2. Hintergrund(Originalquelle: http://ch.indymedia.org/de/2014/12/94016.shtml)
Die (in)direkten Hintergründe des Bundesgerichtsentscheids:
Augenauf-Bulletin Dezember 2014:
Berner Kantonspolizei ohne und ausser Kontrolle
BERN: DNA-FISHING NACH DER MISS-WAHL
Vor und während einer antisexistischen Protestaktion gegen die Miss Schweiz-Wahlen auf dem Bundesplatz wurden 20 mehrheitlich junge und z.T. minderjährige Aktivist_innen festgenommen. Nach entwürdigenden Nacktkontrollen auf dem Polizeiposten und Anzeigen sollen jetzt einige sogar zur DNA-Abgabe vorgeladen werden.
11. Oktober 2014, kurz vor 21.00 Uhr. Etwa 40 Minuten bevor überhaupt irgend ein Anzeichen einer Protestaktion zu sehen ist, ist die Kantonspolizei Bern beim Bollwerk und rund um den Bundesplatz mit einem Grossaufgebot präsent. Am Bollwerk werden „Verdächtige“ weggewiesen. Erste Anhaltungen und Durchsuchungen auf dem Bundesplatz. Drei dort unabhängig voneinander anwesende Männer werden aufgrund ihres im kollektiven Polizeigedächtnis gespeicherten „Bekanntheitsgrades“ („Reitschule-Aktivist“, „Teilnahme an unbewilligten Demos“ etc.) auf den Polizeiposten Waisenhausplatz mitgenommen. Dort werden ihnen recht abenteuerliche Anhaltungs- und „Anklage“-Gründe verkündet: Widerhandlung gegen das Strafgesetzbuch, unbewilligte Demo, Störung des öffentlichen Friedens… Nichts davon ist strafrechtlich relevant. Nach zwei Stunden werden sie wieder entlassen.
Deutlich länger – bis zu 4 ½ Stunden, in zwei Fällen sogar bis Sonntagmittag – auf dem Polizeiposten bleiben müssen etwa 17 Personen, darunter 7 Minderjährige: Denn etwa eine knappe Stunde nach der Festnahme der drei Männer geht das Polizeigrossaufgebot gegen verschiedene Protesteteilnehmende vor, die sich am Rande des Miss Schweiz-Wahlzeltes auf dem Bundesplatz farbig und lautstark zu Wort melden. Während eine Gruppe weggewiesen wird, wird eine andere, die aus Protest gegen das Polizeivorgehen einen Sitzstreik macht, samt harmlosen oder polizeikritischen Passant_innen verhaftet, gefesselt und teils in Polizeikastenwagen, teils zu Fuss (an etlichen Schaulustigen vorbei) auf den Waisenhaus-Polizeiposten gebracht.

Zweifel am eigenen Einsatz
„Polizei hat Zweifel an eigenem Einsatz“ titelt die Zeitung „Der Bund“ einige Tage später. Nicht ohne Grund: Stundenlanges Warten in der Kälte, Leibesvisitationen, Nacktkontrollen, in einem Fall Auslachen beim begleiteten Klogang, die Männer müssen in Petflaschen urinieren – die Liste der Verfehlungen ist lang. Den Minderjährigen wird die Information der Eltern verweigert – in einem Fall begründete gemäss einer Betroffenen ein Polizist dies damit, dass er niemanden habe wecken wollen… Eine Polizeimediensprecherin wiederum behauptet später, dass mehrere Minderjährige von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch gemacht hätten und darum die Kontaktaufnahme mit den Eltern erschwert gewesen sei (derbund.ch 15.10.2014). Die unnötigen und entwürdigenden Nackt- und Intimkontrollen wurden nachträglich mit dem Verdacht auf Besitz von Betäubungsmitteln oder gefährlichen Geständen begründet (bernerzeitung.ch 14.11.2014). Bis auf zwei werden alle Festgenommenen erst lange nach Mitternacht freigelassen. Draussen vor der Polizeiwache werden sie von einer grossen Gruppe von Freund_innen und Solidarischen empfangen, welcher gegen 02.00 Uhr von der Polizeieinsatzleitung angedroht wird, die Versammlung bald als unbewilligte Demo einzustufen. 16 der insgesamt 20 Verhafteten wird in einer Polizeimedienmitteilung eine Anzeige wegen „Hinderung einer Amtshandlung“ durch die Sitzblockade angekündigt.

Untersuchung durch eine „Drittinstanz“
In den Tagen nach der Haftentlassung der insgesamt 20 Betroffenen mehren sich in den Medien die kritischen Stimmen von Betroffenen, Eltern und Politiker_innen. Um dem zunehmenden Druck – neben Medienschlagzeilen, empörten Onlinekommentaren auch fünf Vorstösse im städtischen und kantonalen Parlament – auszuweichen, kündigt die Kantonspolizei (nicht zum ersten Mal) an, den Polizeieinsatz von einer „Drittinstanz“ (in diesem Fall von der Staatsanwaltschaft) beurteilen zu lassen.
Nach diesen selbstkritischen Tönen staunen Ende Oktober sechs der erwachsenen Betroffenen (inklusive mind. einem der verhafteten Passant_innen) nicht schlecht, als per Post polizeiliche Einladungen (keine beschwerdefähige staatsanwaltschaftlichen Vorladungen) eintreffen, in denen sie (ohne Angabe eines konkreten Termins) aufgefordert werden, eine DNA-Probe abzugeben. „Die DNA-Entnahme sei grundsätzlich geeignet, «diese und/oder allfällige weitere Straftaten aufzuklären»“ zitiert derbund.ch aus dem Brief. Wieso – wie später in den Medien behauptet – die angeblich bereits während der Verhaftungsnacht für insgesamt 9 Verhaftete staatsanwaltschaftlich angeordnete DNA-Probe nicht bereits damals vorgenommen wurde, bleibt unklar. Oder ist es vielleicht auch eine nachträgliche Legitimierung von juristisch fragwürdigem DNA-Fishing?

DNA-Sammelwut
Bereits in den Jahren zuvor war die Kantonspolizei Bern durch DNA-Sammelwut aufgefallen. Nach den Räumungen von Hausbesetzungen in Bern (Finkenhubelweg) und Biel (Fuchsenried) im Februar und März 2012 mussten die jeweils verhafteten Hausbesetzer_innen DNA-Proben abgeben – obwohl dies offensichtlich nicht zur Aufklärung von den ihnen vorgeworfenen Delikten beitragen kann. Begründung der Kapo-Medienstelle: «Es lag eine Anzeige auf Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung vor. Zudem haben sich bei der Räumung konkrete Hinweise auf Diebstahl ergeben» (derbund.ch 11.04.2012).
Rechtsexpert_innen und Politiker_innen überzeugt (damals wie heute) diese eigenwilligen Interpretationen der Polizei nicht: „Dass die Polizei aber gleichsam blind eine DNA-Analyse vornehme, nur um zu schauen, welche Treffer die Datenbank liefert, empfindet Müller als «unverhältnismässig». Ja, es sei «ein Schritt in Richtung Überwachungsgesellschaft».“ zitierte der Bund 2012 den Berner Staatsrechtsprofessor Jörg Paul Müller, den es sehr beunruhigen würde, „wenn die Ergebnisse der Analyse unbesehen in die nationale Datenbank aufgenommen würden.“ (derbund.ch 02.04.2012)

Mist-Attacke: Zukünftige Militanz
Ein Fall von Ende Januar 2013 beschäftigte im September 2014 das Berner Obergericht: Aktivist_innen hatten anlässlich einer Asylkonferenz in der Uni Bern aus Protest gegen die herrschende Asylpolitik während des Vortrages des BfM-Direktors das Rednerpult mit Mist verziert. Neben dieser angeblich schon DNA-Proben-relevanten „Sachbeschädigung“ war für die Polizei entscheidender, dass das bei den Verhafteten aufgefundene Material, „unter anderem ein Informationsblatt mit Aufruf zu zivilem Ungehorsam“ beinhaltete. Polizeiliche Überlegung: „Dies deutete darauf hin, dass sie bei einer Aktion eine Woche zuvor beteiligt gewesen waren oder noch weitere Aktionen planen könnten.“
Diesem Konstrukt folgte das Berner Obergericht: „Die Demonstranten hätten bei ihrer Aktion eine «erhebliche militante Haltung» gezeigt, die über das Verteilen von Flugblättern hinausgehe. Aufgrund dieser konkreten Umstände durften die Ermittlungsbehörden darauf schliessen, dass die beschuldigten Personen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit an früheren oder künftigen Straftaten beteiligt sind oder sein werden. Das Vorgehen sei damit noch verhältnismässig gewesen. Alleine aufgrund der Mist-Aktion war die DNA-Probe nach Ansicht des Obergerichts allerdings nicht notwendig.“
Und: „Für das Obergericht ist auch nachvollziehbar, dass die DNA-Probe sofort und nicht für einen späteren Zeitpunkt angeordnet wurde. Die Beschuldigten hätten sich nicht sonderlich kooperativ verhalten. Die Polizei vermied so, die Personen später nochmals aufbieten zu müssen. Das sei vernünftig gewesen.“ (bernerzeitung.ch 25.09.2014)

Police Bern: Immer noch ohne und manchmal ausser Kontrolle
Es ist angesichts dieser eigenwilligen Rechtssprechung zu befürchten, dass auch im Falle der 6 Betroffenen vom 11. Oktober 2014 erneut DNA-Proben nicht zwecks Aufklärung eines Delikts entnommen werden sollen, sondern einzig ein bisschen „DNA-Fishing for the Future“ betrieben werden soll, um allfällige auch in Zukunft politisch aktive junge Erwachsene präventiv im voraus zu fichieren – mit dem Ziel, diese einzuschüchtern. Leider wohl nicht der letzte Fall. Immerhin: Niemand der Eingeladenen scheint bisher eine beschwerdefähige Vorladung erhalten zu haben.
Auch der Einsatz und die Prüfung der Vorfälle vom 11. Oktober durch eine „Drittinstanz“ werfen (nicht zum ersten Mal) Fragen auf. Wieso prüft – was zwar rein strukturell korrekt ist – ausgerechnet die sehr eng mit Polizei zusammenarbeitende und somit mässig „unabhängige“ Staatsanwaltschaft nicht nur den Polizeieinsatz, sondern unter anderem auch ihre eigenen Anweisungen? Wieso gibt es im bürgerlich dominierten Kanton Bern immer noch keine unabhängige Polizeibeschwerdestelle oder -Ombudsstelle, wenn dies neben NGOs, Menschenrechtsgruppen und linksgrünen Parteien mittlerweile sogar die rotgrüne Stadtberner Regierung fordert?
Augenauf Bern