2020,  Asyl/Migration,  Diverse Aktionen

Beim Namen nennen – 40’555 Opfer Festung Europa

Inhalt:
1. Aufruf
2. Medienbericht


1. Aufruf (Originalquelle: https://www.beimnamennennen.ch/bern)
Wir lesen in der Heiliggeistkirche die Namen der Verstorbenen vor und nennen die Umstände ihres Todes. Immer zur vollen Stunde gibt es Musik, Worte, Stille, Performance und anderes.


2. Medienbericht (Originalquelle: https://www.derbund.ch/alec-von-graffenried-spricht-ueber-fluechtlinge-und-weint-948383703687)
Es ist Samstagmittag. In der Heiliggeistkirche im Zentrum Berns haben sich ein paar Dutzend Menschen versammelt. Vorne steht Stadtpräsident Alec von Graffenried. Er hält die Eröffnungsansprache der Aktion zum Flüchtlingstag. Ihr Titel: «Beim Namen nennen – 40’555 Opfer der Festung Europa.»
Die Heiliggeistkirche hat sich in den Tagen zuvor bereits zum Mahnmal gewandelt. An der Fassade sind Stofffetzen angebracht. Jeder Fetzen trägt den Namen eines Menschen, der auf der Flucht nach Europa gestorben ist. Und wenn der Name nicht bekannt ist – was oft der Fall ist –, heisst es zum Beispiel «Baby, ertrunken vor marokkanischer Küste». Dazu das Datum des Todes. Die Liste mit dokumentierten Fällen reicht zurück bis ins Jahr 1993. Schon letztes Jahr hat die Heiliggeistkirche diese Aktion durchgeführt. Damals wurde 35’597 Flüchtlingen gedacht. Die meisten Stofffetzen stammen somit von damals.
Tausende Briefe an den Bundesrat

Von Graffenried gerät während seiner Ansprache ins Stocken. Ja, er weint. Es ist da, wo er von den Menschen spricht, die aufbrechen und voller Hoffnung sind auf ein anderes Leben. Der Stadtpräsident, der letztes Jahr bereits mitgemacht hat bei der Aktion und Namen auf die Stofffetzen aufgeschrieben hat, ist diesmal offiziell geladen und Teil des Programms. Im Anschluss an seine Ansprache liest er Namen vor – die 127 ersten, die auf der Todesliste stehen.
Bis am Sonntagmittag werden sämtliche Namen der Opfer in der Kirche vorgelesen. Auch während der Nacht wird gelesen. Immer zur vollen Stunde gibt es Musik, Worte, Stille, Performance und anderes, wie es in der Medienmitteilung heisst.

An der Aktion können sich auch Passanten beteiligen. Es sind Namen aufzuschreiben – es sind die Namen jener Menschen, die seit letztem Juni auf ihrer Flucht ums Leben gekommen sind. Zudem soll für jede einzelne verstorbene Person ein handgeschriebener Brief an den Bundesrat geschickt werden. Die Briefaktion dauert den ganzen Monat Juni, wie Andreas Nufer sagt. Er ist Pfarrer und Projektleiter bei der Offenen Kirche Bern.
An der Aktion «Beim Namen nennen» beteiligen sich auch Partnerorganisationen in der ganzen Schweiz. Die Offene Kirche Bern, die in der Heiliggeistkirche daheim ist und interkonfessionell getragen wird, koordiniert die Aktionen schweizweit. Die Stadt Bern trägt den Anlass ideell und finanziell mit, nebst weiteren über 100 Organisationen.
«Mit dem Finger auf uns selbst zeigen»

Alec von Graffenried sagt nach seiner Ansprache zum «Bund», die Passage, wo er von der Hoffnung der Menschen sprach, habe ihn plötzlich so stark berührt, dass ihm für einen Moment die Sprache versagt habe. Er sei an dieser Stelle auch von seinem Manuskript abgewichen und habe, obschon er eigentlich ein eher kirchenferner Mensch sei, eines der einzigen Bibelworte zitiert, das er frei zitieren könne – jenes vom Glauben, der Liebe und der Hoffnung. Die Flüchtlinge glaubten an das Leben und an die Menschheit und an die Menschlichkeit. Und sie hofften, das Schicksal möge ihnen gnädig gestimmt sein, sagt er. «Und dann müssen sie sterben – es ist furchtbar.»
An deutlichen Worten liess es Stadtpräsident von Graffenried zum Abschluss seiner Ansprache nicht fehlen. Er ging auf das Thema Rassismus ein, das seit Anfang Juni die Schlagzeilen dominiert: Wir zeigten gerne mit dem Finger auf andere, zum Beispiel nach Amerika und verurteilten den systematischen Rassismus dort, sagte von Graffenried. «Doch hier bei uns verschliessen wir die Augen.» Dass wir jene Menschen, die vor Krieg, Hunger und Verfolgung flüchten und sich auf den Weg nach Europa machten, «als Menschen zweiter Klasse abtun – das ist Rassismus», sagte von Graffenried. «Mit dem Finger können wir getrost auf uns selbst zeigen.»