2016,  Demo,  Freiraum,  Gender

Stadtrundgang Reitschule Wiedereröffnung

Inhalt:
1. Aufruf
2. Impressionen
3. Medienbericht


1. Aufruf (Originalquelle: https://www.facebook.com/Reitschule/posts/10154156075210660)
Offener Brief vom 2. August an unsere Freundinnen und Freunde

DIE REITSCHULE ÖFFNET WIEDER – UND RUFT ZUM STADTRUNDGANG
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Besucher_innen des Vorplatzes und der Schütz, liebe Medien.

In den vergangenen Wochen haben wir Reitschüler_innen eine ganz andere Reitschule kennenlernen können. Weil kein täglicher/nächtlicher Betrieb stattfand, gab es viel Raum und Zeit für Gespräche und Zusammenarbeit, welche bisher oft zu kurz gekommen waren. Es wurde viel diskutiert darüber, was bisher gut oder auch nicht so gut oder sogar gar nicht gut lief. Und was sich möglicherweise wie ändern liesse.

Die Vollversammlung vom 9. Juli 2016 hat die Reitschule aufgrund der Situation auf dem Vorplatz und der Schützenmatte kurzfristig geschlossen. Der Entscheid fiel uns sehr schwer, weil wir damit euch Freunde und Freundinnen mehr oder weniger ausgeschlossen haben. Trotzdem konnten wir nicht länger zuschauen, wie unsere Grundsätze auf dem Perimeter Schützenmatte von verschiedenen Personen mit Füssen getreten werden.
Eine Schliessung von knapp einem Monat ist eigentlich viel zu kurz. Aber wir wollen diesen Ort nicht sich selbst überlassen, sondern ihn gemeinsam mit euch allen aktiv beleben: Wir öffnen wieder, für euch, die ihr genauso die Reitschule ausmacht, wie jede_r aktive Reitschüler_in. Dies wollen wir mit einem Stadtrundgang tun.

EINBINDEN, BELEBEN, SENSIBILISIEREN
Ebenso ehrlich wie wir geschlossen hatten, erkennen und sagen wir: Es gab und gibt Probleme im Grossraum Schützenmatte, für welche wir unmöglich die Verantwortung übernehmen wollen und können. Und leider können wir diese gesellschaftlichen Probleme, welche sich vor unserem Haus kristallisieren, auch nicht alleine lösen. Aber alle gemeinsam können wir sie hoffentlich entschärfen. Wir haben uns überlegt, was sowohl wir Reitschüler_innen als auch ihr Freund_innen tun könnt, um die Situation vor der Reitschule zu verbessern:

– Wir wollen die Grundsätze unseres Manifests visualisieren und in verschiedenen Sprachen auch ausserhalb der Reitschule deutlich machen.

– Wir wollen einen Informationsstand respektive eine Anlaufstelle schaffen, wo Informationen und Hilfe geholt werden können.

– Wir wollen Veranstaltungen, Workshops und Kultur auf dem Vorplatz organisieren und diesen somit aktiv beleben.

– Wir wollen aktiver kommunizieren. Mit euch Freund_innen und Besucher_innen im Haus und auf dem Vorplatz. Aber auch mit Menschen, die mit dem Freiraum schlecht umgehen oder ihn missbrauchen. Nur wenn der Austausch mit den Leuten rund um die Reitschule stattfindet, können wir unsere Grundsätze vermitteln.

– Wir wollen aktiv präsent sein. Wir waren schon bisher auf dem Vorplatz und auf der Schützenmatte präsent und haben uns in Schadensbegrenzung geübt. Das hat zwar gewirkt, aber leider nicht genügend. Wir wollen es mit einem neuen Ansatz und mit mehr Mitarbeiter_innen versuchen; indem wir besser informieren, vermehrt das persönliche Gespräch suchen und und euch alle einladen, mitzumachen und Verantwortung zu übernehmen.

– Wir wollen, dass ihr Besucher_innen der Reitschule mithelft, das Projekt zu tragen und eingreift, wenn unser Manifest verletzt wird.

– Wir wollen in den Gesprächen mit der Stadt vermehrt und mit Nachdruck auf die Schwierigkeiten hinweisen, die sich bei der Schützenmatte konzentrieren. Wir wollen versuchen, gemeinsame und konstruktive Lösungen zu finden.

AUCH DIE STADT MUSS VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN
Nach der Schliessung hat sich die Situation nicht einfach beruhigt oder grundlegend verändert. Die Reitschule leistet mit ihrem vielfältigen Kulturprogramm, ihren politischen Veranstaltungen und dem sonstigen Tagesbetrieb einen erheblichen Beitrag zur Befriedigung unterschiedlichster Bedürfnisse der Menschen aus der Stadt und Region Bern. Der Freiraum, den Reitschule, Vorplatz und Schützenmatte bilden, bietet jede Woche tausenden von Menschen einen Ort zum Verweilen und nimmt der Stadt und der Region Bern damit eine grosse „Last“ ab. Damit konzentrieren sich aber auch diverse Probleme rund um die Reitschule, mit welcher die Stadt sonst anderswo fertig werden müsste. Um diese Probleme zu entschärfen, stellen wir auch einige Forderungen an Stadt und Behörden:

1. Politik und Behörden:
Die Stadt muss einsehen, dass es Probleme gibt, die durch ihre Politik zur Reitschule hin verlagert werden. Die Behörden und Politiker_innen sollen die Anstrengungen der Reitschule anerkennnen – nicht bloss die kulturellen, sondern auch die sozialen. Sie sollen aufhören, auf dem Buckel der Reitschule und ihrer Gäste Wahlkampf und persönliche Interessenspolitik zu betreiben, indem sie gesamtgesellschaftliche Probleme einseitig der Reitschule anlasten. Die Vertreter_innen der Stadt sollen sich darum bemühen an konstruktiven Lösungen ernsthaft mitzuarbeiten und echte Lösungen anzustreben. Dazu muss es Änderungen in der Drogen-, Jugend- und Nachtlebenpolitik geben. Und dazu muss sich das Auftreten der Repressionsorgane in Bern ändern.

2. Drogen und Deal:
Die Reitschule spricht sich für eine progressive Drogenpolitik aus und erinnert daran, dass u.a. Bern diesbezüglich mit der Eröffnung der Drogenanlaufstelle einst eine europaweite Vorreiterrolle eingenommen hat. Desweitern stellen wir uns geschlossen hinter Institutionen wie Sleeper, Casa Marcello, Kirchliche Gassenarbeit Bern, Koda und natürlich die Anlaufstelle. Egal was in den Medien berichtet wird und trotz teilweise divergiernder Meinungen, die Wichtigkeit dieser Einrichtungen als direkte Hilfe für Konsument_innen und randständige Menschen kann nicht genügend betont werden.
Es braucht aber dringend eine zweite Anlaufstelle für Drogengebraucher_innen. Dezentralisierung und alternierende, erweiterte Öffnungszeiten können den Perimeter entlasten. Die Einlassbedingungen der Anlaufstellen müssen an die tatsächliche Situation angepasst werden. Und es braucht endlich Lösungen in den Städten des Oberlandes und im Kanton Freiburg. Wir sind bereits im Gespräch mit den Verantwortlichen der Berner Anlaufstelle und suchen nach Lösungen. Des Weiteren fehlt es an niederschwelligen Angeboten. Die Politik auf dem Rücken der Betroffen und ihre Vertreibung aus beinahe dem ganzen Öffentlichen Raum müssen aufhören.

Solange Drogen nicht legalisiert sind, wird es auch den Deal mit all seinen negativen Folgen geben. Die Stadt soll aufhören, diesen so zu „bekämpfen“, dass er sich übermässig auf einzelne Orte konzentriert. Das belastet nicht nur die Reitschule, sondern erhöht auch den Konkurrenzdruck und damit die Gewaltbereitschaft der Dealer_innen. Ausserden führt es dazu, dass „weiche“ und „harte“ Drogen am selben Ort angeboten werden. Progressive Schritte in Richtung Legalisierung sind dringend nötig.

3. Jugendarbeit und Stadtleben:
Private Initiativen in leerstehenden Häusern und auf Brachen brauchen Raum. Diese entstehen überall „wie von selber“ durch engagierte und aktive Menschen – sie werden aber von der Stadt und der Polizei zu oft bekämpft und verhindert, statt geduldet. Diese Vertreibungspolitik, die sich gegen diese Freiräume und Experimentierfelder richtet, halten wir für falsch. Eine Stadt braucht Lücken, in denen Menschen aktiv sein können, sich selber organisieren und experimentieren können. Dies schafft eine lebendige Stadt und niederschwellige Angebote für ein breites Spektrum von Menschen.
Für junge Menschen ohne grosses Budget, fehlt es an Möglichkeiten. Jugendliche werden von Polizei und privaten Sicherheitsleuten aus den Quartieren und den Öffentlichen Pärken vertrieben, wenn sie etwa Musik hören oder Alkohol trinken. Es braucht dringend mehr niederschwellige Angebote für diese Altersgruppe.

4. Polizei:
Wir fordern die Polizei auf, auf die aktive Politik die sie gegen die Reitschule betreibt zu verzichten und endlich zur deeskalierenden Haltung zurückzukehren. Die Repression die die Polizei in Raum Schützenmatte betreibt, ist kontraproduktiv. Diese Einsätze werden oft mit so wenig Fingerspitzengefühl durchgeführt, dass die Lage schlimmer wird, als vor dem Polizeieinsatz.
Die Reitschule bekommt aber auch die Repression zu spüren, die in der restlichen Stadt kontinuierlich zugenommen hat: Wegweisung von Drogengebraucher_innen, von Jugendlichen die Musik hören oder skaten, von Dealer_innnen, Bettler_innen, Obdachlosen, härteres Vorgehen gegen besetzte Häuser und gegen Demonstrationen. Diese Repression zur Wahrung des sogenannten ‚Stadtbilds‘ treibt immer mehr Menschen in den Grossraum Schützenmatte und erhöht damit den Druck auf Reitschule und Umgebung.

Wir fordern daher eine unabhängige Ombudsstelle, an die man sich bei Problemen mit Polizei und Behörden wenden kann und die bei Konflikten interveniert und vermittelt.

WIR ALLE SIND DIE REITSCHULE
Egal welche Massnahmen, Projekte oder Kampagnen wir oder die Stadt aber starten, der Freiraum Reitschule lebt nur dank und durch euch! Es braucht eine Solidarisierung der Menschen in und um der Reitschule, ungeachtet ob sie in den Strukturen des Hauses involviert sind oder nicht. Nur durch ein klares Bekenntnis ALLER Besucher_innen zum Manifest und den Grundsätzen unsers Kultur- und Politzentrums, können Sexismus und Übergriffe bekämpft werden.

Besucht uns. Wir sind ab Donnerstag wieder da.
Herzlich,
Eure Reitschule Bern

DIE WIEDERERÖFFNUNG DER REITSCHULE STARTET AM 04.08.2016 UM 18:30 Uhr AUF DER GROSSEN SCHANZE MIT EINEMS STADTRUNDGANG. Er soll aufzeigen, dass die Probleme, welche auf dem Vorplatz bestehen, ihren Ursprung und Ausdruck in unserer Gesellschaftsform haben und dass sie auch in der restlichen Stadt festzustellen sind und waren – wie zum Beispiel die offene Drogenszene, samt Deal und Prostitution auf der Bundesterasse in den 1990er-Jahren.


2. Impressionen (Originalquelle: https://www.facebook.com/InfoAGB/posts/676440375837655)


3. Medienbericht (Originalquelle: https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/hunderte-nehmen-an-reitschulestadtrundgang-teil/story/21663249)
Reitschule mit Stadtrundgang wiedereröffnet
Mehrere Hundert Personen spazierten am Donnerstag durch Bern, um am Ende des Rundgangs die Reitschule wieder zu öffnen. Der Umzug war eindrücklich und friedlich.

An zehn Stationen machte am Donnerstag eine nicht alltägliche Menschenmenge in der Berner Innenstadt halt: Mehrere Hundert Personen waren gekommen, um nach dem Rundgang die Reitschule wieder zu öffnen. Das Kulturzentrum war knapp einen Monat geschlossen. Die Betreiber wollten mit der Pause signalisieren, dass sie sich mit den Problemen im Raum Schützenmatte allein gelassen fühlen.

Der Umzug startete um 18.45 Uhr auf der Grossen Schanze und führte via Bahnhof, Bundesterrasse und Altstadt zur Reitschule. Jugendliche, Familien, Stadträtinnen und andere Interessierte waren gekommen, um ihre Verbundenheit mit der Reitschule zu zeigen. «Unser Spaziergang endet an dem Ort, der von vielen für die Probleme in dieser Stadt verantwortlich gemacht wird», sagte ein Reitschüler ins Mikrofon der mobilen Soundanlage. «Dabei nehmen wir der Stadt viele dieser Probleme ab.»

Halt in der Bahnhofhalle: Diese habe sich vom Treffpunkt für alle sozialen Schichten zum sterilen Shoppingcenter gewandelt, ruft eine Reitschülerin den Umzugsteilnehmern zu. Bei jedem weiteren Stopp machen die Sprecher darauf aufmerksam, wo Freiräume verschwunden sind.

Mit bunten Post-its deponieren die Teilnehmer ihre Forderungen an die Stadt beim Eingang des Erlacherhofs. Klebereien, keine Sprayereien. «Wir machen nichts kaputt. Wir nehmen unseren Abfall wieder mit», rufen junge Teilnehmer anderen in Erinnerung. Gegen 21 Uhr erreicht der Umzug die Schützenmatte. Nun wollen alle rein ins Trockene. Die Reitschule hat wieder geöffnet.