2003,  Repression

Leak Polizeitaktik zu G8 Evian

Inhalt:
1. Medienbericht


1. Medienbericht (Originalquelle: http://ch.indymedia.org/de/2003/08/13330.shtml)
Woz 21.8.2003
Die geheimen Einsatzpläne der Berner Kapo zum G8-Gipfel
Operation Colibri
Heiner Busch
Sie hatten die Auseinandersetzungen in Genua noch vor Augen und rechneten für Evian mit dem Schlimmsten: Der WoZ zugespielte Dokumente erlauben interessante Einblicke in die Polizeiarbeit.
Lausanne, Sonntag, 1. Juni 2003. Der grosse Protesttag gegen den G8-Gipfel. Es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen interkantonalen Polizeikräften und den zwei- bis dreitausend DemonstrantInnen; Sachschäden, Plünderungen, Polizeiübergriffe, Verletzte, mehrere hundert Festnahmen. Im Vorfeld des G8-Gipfels in Evian hatten PolitikerInnen und Polizeichefs mit schlimmen und schlimmsten Szenarios die Stimmung aufgepeitscht.

Aber wie hat sich die Polizei auf ihre Einsätze vorbereitet?
Die Kapo Bern war mit einem «Ordnungsdienst- Detachement» von 198 BeamtInnen inklusive Kader und Sanität in Lausanne präsent. Die 157 Männer und 41 Frauen sollten «voraussichtlich vom 27./28.5. bis 3.6.2003» im Einsatz stehen. Ihre Namen stehen in der sechsseitigen «Personaleinteilung» vom 26. Mai 2003. Das ist eine der Planungsunterlagen für den Einsatz in Lausanne, die «Operation Colibri», die der WoZ vorliegen.
Für ihren Einsatz wird die Berner Kantonspolizei rund 630 000 Franken in Rechnung stellen dürfen. Dieser Betrag ergibt sich aus der Zahl der eingesetzten BeamtInnen, den Einsatztagen und der Tagespauschale von 400 Franken pro Person, die in der «Verwaltungsver- einbarung über die Kosten interkantonaler Polizeieinsätze» festgelegt ist.

Das Berner Detachement war Teil eines Bataillons des Ordnungsdienstes (OD) des Nordwestschweizerischen Polizeikonkordats (NWPK), zu dem auch Verbände der Kantonspolizeien Aargau, Solothurn und Baselland gehörten. Wie aus der «Ikapol-Telefonliste» hervorgeht, stellte die Kapo Bern den Kommandanten (Funkruf: Capo) sowie grosse Teile des Kaders und der Mannschaften. Kern des Bataillons waren drei Einsatzkompanien – «Alfa» aus Bern, «Bari» aus dem Aargau, «Cosa» aus Solothurn – mit je drei Zügen à 28 Personen – sowie der Zug «Esso» aus Baselland. Ein Reservezug der Kapo Bern stand den NWPK-Polizeiverbänden zur Verfügung, zwei weitere der waadtländischen Gendarmerie. Die Stadtpolizei Bern verfügte wie die anderen Polizeikorps des Konkordats über einen G8-Verbindungsoffizier, war aber ansonsten nur durch den Nachrichtendienstler Fritz Sch. vertreten.

28 Maschinenpistolen
Offenbar zur Vorbereitung des G8-Einsatzes hatte ein Herr B. am 2. Mai eine Inventarliste des OD-Materials erstellt, das die Berner Kapo zu diesem Zeitpunkt vorhielt. Alle möglichen Gerätschaften von Handschellen über Stacheldrahtsperren bis zu Schutzschildern aus Korbgeflecht (alt) und aus Plexiglas (neu) lagerten im Gebäude P der Berner Papiermühlestrasse 14.
Im Haus G fanden sich die mittlerweile typischen Materialien für Demonstrationseinsätze: 210 Reizstoffsprays, 100 Behälter mit Reizstoffwurfkörpern (Frosch), 12 Holzkisten mit Tränengasgranaten (wahrscheinlich CS-Gas) und ebenso viele mit Gummigeschossen – jeweils samt Treibpatronen – sowie 36 Armeerucksäcke. Hinzu kamen 36 Abschussgeräte (TW 73) für diese Munition sowie 14 Reizstoffwerfer vom Typ RW 99 mit Tragegestell und Druckbehältern, aus denen sich ein Gemisch von Wasser und CN-Gas oder Pfefferspray versprühen lässt. Dass die wirksamsten Mittel gegen Tränengas frische Luft und klares Wasser sind, weiss man auch bei der Polizei. Zum Zubehör des RW 99 gehören deshalb ein Frischluftkompressor «Mariner II» sowie «Wassersäcke für Augenwäsche» und Wasserbidons.
Dies alles mag zur typischen Ausrüstung der Polizei im Ordnungsdienst gehören. Dass der «Totalbestand OD» auch 28 Heckler-&-Koch-Maschinenpistolen MP 5 mit Aimpoint (einer Laserzielvorrichtung) umfasst, lässt dagegen aufhorchen. Wie viele dieser Waffen und Materialien die Berner Kapo nach Lausanne mitgenommen hat, ist aus den Papieren nicht ersichtlich.

Die Rote Zone
Auf rund zwei Kilometern – von Bellerive im Osten bis zum Quai de Belgique im Westen – waren das Lausanner Seeufer und das dahinter liegende Gebiet zur roten Zone erklärt und für «Unbefugte» gesperrt worden. Das «Dispo Manifestation», eine Planungsskizze der Waadtländer Polizei, zeigt, dass die Sperrzone selbst von interkantonalen Polizeikräften bewacht werden sollte. Ab dem 29. Mai lösten sich hier die Einsatzkompanien Alfa, Bari und Cosa in einem sechsstündigen Wechsel von Ruhe, Einsatz und Pikettdienst ab. Drei deutsche Wasserwerfer und ihre Besatzungen unterstützten sie dabei.

Die Waadtländer Gendarmerie sollte ausserhalb der roten Zone agieren. Von deren Absperrungen bis zu der parallel zum Seeufer verlaufenden Avenue de Cour beziehungsweise ihrer Fortsetzung, der Avenue de l’Elysée, erstreckte sich eine «gelbe» Zone. Diese war zwar im Normalfall zugänglich. An allen Kreuzungen waren jedoch Polizeisperren vorgesehen, die die DemonstrantInnen an einem Eindringen in diesen Raum und einer Annäherung an das eigentliche Sperrgebiet hindern sollten. Weitere Polizeireserven waren in der Stadt und auf einem Truppenübungsplatz in Bière, westlich von Lausanne, stationiert und konnten über die Kommandoposten Seepolizei, Front (innerhalb der roten Zone) und Blecherette (in einer Zivilschutzanlage nördlich von Lausanne) mobilisiert werden.

Der «Plan für vorbehaltene Entschlüsse» zeigt die Szenarios, auf die die Polizei vorbereitet sein wollte. Keines davon entsprach auch nur ansatzweise der Realität. Weder gab es einen Helikopter-«Crash» (Szenario Nr. 8), noch tauchte ein «Snyper», ein Heckenschütze (englisch: sniper) auf, der «von einem erhöhten Punkt in die Sicherheitszone» hineingeschossen hätte (Nr. 9). Alle weiteren Überlegungen orientierten sich offenbar am Modell der G8-Tagung in Genua 2001: Man erwartete das Eindringen von DemonstrantInnen in die rote Zone – am Bellerive-Platz, beim Musée de l’Elysée, beim Olympiamuseum, an der Place de la Navigation oder anderswo. Die polizeiliche Antwort darauf hätte gelautet: «Sofortige Intervention mit allen oder teilweisen Mitteln», Mobilisierung des Pikettzuges samt Wasserwerfern und Piranha-Panzern – innerhalb von fünf Minuten –, «wenn nötig Alarmierung der Reserve» – innerhalb von fünfzehn Minuten.

Symbolische Blockaden
«Zur roten Zone konnte man nicht vordringen. Das war allen klar», erklären zwei Mitglieder der Berner Anti-Repressionsgruppe Lausanne, die die Demonstration am Sonntag, dem 1. Juni, genau beobachtet und dokumentiert haben. Die DemonstrantInnen hätten versucht, den Zugang der Delegationen zum See zu blockieren, allerdings nicht vor den Toren der roten Zone, wie die Polizei erwartete, sondern weit davor.

Gegen 7.15 Uhr seien zwei- bis dreitausend Personen von den beiden Camps am westlichen Rand von Lausanne losgezogen. Sie liefen auf der Avenue de Cour entlang der gelben Zone, drangen aber nicht in diese ein. Zwischenzeitlich seien die Schaufenster von Tankstellen und eines Migros-Ladens eingeschlagen und einige Lebensmittel geklaut worden. Man übte sich im Barrikadenbau, der zu nichts führte. «Die Zerstörungen», so die Berner Aktivisten, «sind aber weit weniger dramatisch gewesen, als sie hinterher dargestellt wurden.» Auf der Avenue de l’Elysée habe die Polizei die Demo zerschlagen. Weder ein Ausweichen in die Stadt noch Richtung See sei möglich gewesen. An der Place de Milan habe die Polizei nicht nur Tränengas, sondern auch Schockgranaten eingesetzt, von denen eine unter einem Kinderwagen explodierte. Auch Berner Kantonspolizisten sollen solche Granaten geworfen haben. Danach habe man die Demo unter ständigem Einsatz von Tränengas in Richtung der Camps zurückgedrängt. Gegen 13 Uhr kesselte die Polizei das Camp Bourdonnette ein. Mehrere hundert Personen wurden zum Teil auf sehr rüde Art festgenommen und zur Zivilschutzanlage Blecherette verbracht. Auch hier berichten ZeugInnen von Übergriffen und Misshandlungen.
Die Delegationen verspäteten sich um zwei bis drei Stunden, die Blockaden hatten damit allenfalls eine symbolische Wirkung. Die Übergriffe und Verletzungen, der massive Einsatz polizeilicher Gewalt erscheint vor diesem Hintergrund vor allem als Ergebnis unnötig aufgeputschter polizeilicher Szenarios und eines «OD-Materials», das definitiv nicht an Demonstrationen gehört.