2021,  Repression,  Türkei & Rojava

Freispruch Amokfahrt

Inhalt:
1. Medienbericht


1. Medienbericht (Originalquelle: https://www.bernerzeitung.ch/freispruch-fuer-berner-amokfahrer-von-2015-875753618094?)
Freispruch für den Autolenker – Von der «Amokfahrt» bleibt nichts mehr übrig
Im September 2015 fuhr ein Mann in eine Gruppe kurdischer Demonstranten. Rasch war die Rede von der «Amokfahrt von Bern». Nun wurde der Mann freigesprochen.

Der 12. September 2015 ging als schwarzer Tag in die Berner Kundgebungsgeschichte ein. Mit Gummischrot und Tränengas, über 20 Verletzten und an die hundert Anzeigen. Und mit einem Vorfall, der weit über die Stadtgrenzen hinaus Schlagzeilen machte. Die Aufnahmen des dunkelblauen Mercedes, der in eine Menschenmenge auf der Schwellenmattstrasse fährt, kursierten noch am selben Tag – auch auf der Plattform, auf der nun diese Zeilen stehen.

Bezeichnenderweise zeigten die meisten Aufnahmen der «Amokfahrt von Bern» nur den einen, den finalen Ausschnitt der «beispiellosen Gewaltorgie», die sich am Stutz zwischen Helvetiaplatz und Dalmaziquai Bahn gebrochen hatte. Von einer solchen sprach am Montagnachmittag Peter Müller, Gerichtspräsident am Regionalgericht Bern-Mittelland.

Das Gericht sprach den Fahrer des dunkelblauen Mercedes vom Vorwurf der eventualvorsätzlichen versuchten Tötung sowie von allen anderen ihm zur Last gelegten Delikten frei.

Zwei Demos
Um zu verstehen, wieso der Mann damals mit seinem demolierten Wagen ein halbes Dutzende Menschen angefahren und einige dabei regelrecht aus dem Weg katapultiert hat, muss man die Gemengelage jenes Demosamstags in Bern kennen:
Es begann mit einer Bewilligung, erteilt von den Behörden für eine Kundgebung einer Gruppierung, die der türkischen Regierungspartei AKP nahesteht. Zu einer Zeit, als der Nahe Osten einem Flächenbrand glich. Als auch in Südostanatolien die Gewalt zwischen der türkischen Armee und der kurdischen PKK eskalierte.

Als Antwort auf die bewilligte Kundgebung fand auf dem Helvetiaplatz auch eine prokurdische Gegendemonstration statt. Die Polizei löste diese unbewilligte Demo auf. Der Frust war gross. Einige aus dem prokurdischen Lager wichen auf die Schwellenmattstrasse aus. Hier schlug der Frust um. In brachiale Gewalt. Der Mann im blauen Mercedes geriet mitten hinein.
Am 12. September 2015 traf in Bern eine prokurdische auf eine protürkische Kundgebung.
Am 12. September 2015 traf in Bern eine prokurdische auf eine protürkische Kundgebung.
Foto: Manu Friederich
58 Sekunden

Der Mann war soeben in Bern angekommen, zusammen mit einem Freund, seiner Tochter und deren Cousine. Sie wollten an der «türkischen» Demo teilnehmen. Der Freund sass auf dem Beifahrersitz, die Frauen sassen hinten. Sie trugen rot-weisse Trikots, darauf Halbmond und Stern. Hinter ihnen fuhr ein zweites Fahrzeug mit Bekannten des Mannes. Sie wurden vom Helvetiaplatz weg auf die Schwellenmattstrasse geschickt. Und dort aufgehalten.

Fahrer und Beifahrer stiegen aus oder wurden aus den Autos gezerrt. Die Aggressoren hatten sich aus der kurdischen Gegendemo gelöst. Sie traktierten die Männer umgehend mit Füssen, Fäusten und Gegenständen. Sie öffneten die Hecktür des Mercedes, prügelten auch auf die Frauen ein, traten Windschutzscheiben ein. Es fielen Todesdrohungen. Später sagten einige Angreifer gegenüber der Polizei aus, dass sie provoziert worden seien, dass auf den beiden Autos Aufkleber der türkisch-nationalistischen «Grauen Wölfe» geprangt hätten. Die Polizei fand keine solchen Aufkleber.

Irgendwie rappelte sich der Mann auf. Er kroch in seinen Mercedes. Dann gab er Gas. Zwei der Angreifer, die noch auf der Kühlerhaube standen, warf er ab. Einen dritten Mann fuhr er an. Den Beifahrer und die Insassen des zweiten Wagens musste er zurücklassen. Passanten filmten die Szenen mit ihren Smartphones. Ins kollektive Gedächtnis brannte sich vor allem ein, was gut eine Minute später passierte.

Einige Angreifer liefen dem Wagen hinterher. Der Mann im Mercedes war derweil in Todesangst. Er blutete am Kopf, die Sehbrille hatte er verloren, seine Windschutzscheibe war zerborsten. Personen auf der Fahrbahn nahm er nur noch schemenhaft wahr. Auf dem Rücksitz schrien die Frauen.

Nach einer halben Minute erreichte er den Dalmaziquai. Er gab zu Protokoll, dass sich ihm wiederum Angreifer in den Weg gestellt hätten. Ob das stimmt oder er nicht, ist offen. Fest steht aber, der Mann stand unter Schock. Er kannte sich in der Stadt nicht aus. Aber er wusste: Oben, am Helvetiaplatz, da steht die Polizei. Also wendete er.
58 Sekunden nach seiner Flucht kam der Mann wieder am Ort des Überfalls an. Er hielt nicht an.

Ein seltener Fall
Die Berner Justiz hatte die schwierige Aufgabe, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Einige der Angreifer wurden in separaten Verfahren verurteilt. Nun war die Reihe am Mann, der vom Opfer zum vermeintlichen Täter geworden war. Sechs Menschen hatte er bei seiner Rückkehr und der Fahrt in den wütenden Pulk verletzt.

Die Staatsanwaltschaft forderte eine Freiheitsstrafe von 8 Jahren. Sie hatte das Geschehen vor Gericht in zwei Phasen unterteilt. In der ersten – der Flucht – habe der Mann in rechtfertigender Notwehr beziehungsweise in Notstand gehandelt. Für die zweite Phase aber – also die Rückkehr – gebe es keine Rechtfertigung.

Das sah auch das Gericht so. Allerdings hat es den Umständen und der persönlichen Situation des Mannes besondere Rechnung getragen. Der Beschuldigte leidet an psychischen Problemen, ist IV-Bezüger und war deshalb von einer Teilnahme an den Verhandlungen dispensiert. Hätte er der Urteilseröffnung beigewohnt, wäre er Zeuge eines in der Praxis seltenen Falls geworden: Das Gericht bejahte in seinem Fall die Voraussetzungen eines entschuldigenden Notstands.

«Im Panikmodus»
Ein solcher schliesst – wie es der Name sagt – schuldhaftes Verhalten für eine rechtswidrige Tat aus. Und zwar dann, wenn ein Mensch dabei eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit abwendet. Vereinfacht gesagt, hat der Mann hinter dem Steuer zwar Recht gebrochen, er trägt daran aber keine Schuld.

Mit 31 Kilometern pro Stunde soll der Mann in die Menge gefahren sein. Das Gericht hat das anhand des Videomaterials berechnet. Aber er sei dabei nur noch um sein Leben gefahren – «im Panikmodus.» So sagte es Gerichtspräsident Müller. Der Mann sei unter enormem Handlungsdruck gestanden, habe reflexartig entschieden und sei zudem kein Mensch mit «messerscharfen, analytischen Fähigkeiten». Nachträglich sei es einfach, diese Entscheidungen als falsch zu bezeichnen. Nur, von einem Menschen zu verlangen, dass er in einer solchen Situation ruhig Blut bewahre, das sei «weltfremd».
Die «Amokfahrt von Bern» – am Ende bleibt von ihr nichts mehr übrig.